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    • Jan Timman über die fünf Wettkämpfe um die Weltmeisterschaft zwischen Anatoli Karpov und Garri Kasparov

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      In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war es auch für aufmerksame Beobachter (m/w/d) nicht immer einfach zu sagen, welcher Wettkampf um den Titel des Schachweltmeisters gerade wo gespielt wurde. Zwischen 1984 und 1990 haben Anatoli Karpov und Garri Kasparov fünf Matches um die Krone ausgetragen und dabei insgesamt 144 Partien mit sage und schreibe 5540 Zügen gespielt; nach menschlichem Ermessen ein Rekord für die Ewigkeit. Von diesen Partien hat Kasparov 21 gewonnen, Karpov 19, die anderen 104 Partien endeten remis, zum Teil heftig ausgekämpft, zum (größeren) Teil geschoben. Es ist die Zeit mechanischer Schachuhren, per Hand bedienter Demonstrationsbretter und Hängepartien. Vier der fünf Turniere gingen über die volle Zahl der angesetzten 24 Partien; das erste Match, das noch auf sechs Gewinnpartien gespielt wurde, wurde nach 48 (!) Partien beim Stand von 5:3 für Karpov vom FIDE-Präsidenten abgebrochen und als unentschieden gewertet. Die fast völlige Ausgeglichenheit der Wettkämpfe spiegelt sich im großen Elo-Abstand der beiden zur Konkurrenz wieder; man kann durchaus von zwei Regenten auf dem Schachthron sprechen.

      Der niederländische Schachspieler, Analytiker, Historiker und Autor Jan Timman, Jahrgang 1951 wie auch Anatoli Karpov, und in jenen Jahren als Nummer Drei der Weltrangliste selbst WM-Kandidat, hat jene „längste Partie“ zwischen den beiden K und K noch einmal frisch untersucht. Dabei rezipiert er zeitgenössische Analysen von Raymond Keene, Helmut Pfleger oder Yuri Averbach, vor allem bezieht er sich auf die umfangreiche Darstellung Garri Kasparovs „On modern chess“. Timman kreidet Kasparov in dessen Büchern an, die gespielten Partien und ihre Pläne unter einem Wust von Varianten und Verzweigungen zu begraben. Er selbst beschneide den Wildwuchs der Optionen auf das Wesentliche und mache die Spiele und ihre Schlüsselzüge besser verständlich. Außerdem sei die von ihm genutzte Software (Houdini 3 und Stockfish 9.64) deutlich stärker als die seiner Kollegen, somit sei die Neuerzählung der Dauerfehde gerechtfertigt, noch dazu erstmals in einem Band (feines Papier, klarer Satz, historische Fotos).

      Ein fraglos hoher Anspruch, dem Timman allerdings souverän gerecht wird. Rein schachlich lässt er die bittere Rivalität der beiden Daueropponenten am Beispiel legendärer Partien wieder aufleben: Moskau 1984 (9), als Karpov seine magische Endspielkunst demonstriert und mit starkem Springer gegen schwachen Läufer gewinnt; Moskau 1984 (32), als es Kasparov beim Stand von 0:5 gelingt, mit mutigem Spiel einen Vorteil aus der Eröffnung zu holen, diesen in ein besseres Mittelspiel zu konvertieren und im Endspiel geduldig die Ernte einzufahren; Moskau 1985 (16), als der Herausforderer Kasparov den Titelverteidiger Karpov mit einem Bauernopfer in der Sizilianerin überrascht, einen Feuerspringer auf d3 einpflanzt, seinen Gegner auf vollem Brette lähmt und ihm im Stile Alexander Aljechins den Gnadenstoß versetzt; Sevilla 1987 (24), als Kasparov, um seinen Titel zu behalten, in der letzten Partie mit Weiß gewinnen muss, er das Spiel, psychologisch raffiniert, bedächtig anlegt und Karpov in dessen positionellem Stil überspiel. Nicht zuletzt das lange furiose Theorieduell in der Geschlossenen Spanischen Partie in London/Leningrad 1986 und New York/Lyon 1990, das voller tiefer Ideen und Manöver steckt, die noch heute zur Behandlung dieser komplizierten Eröffnung taugen.

      Schach in den späten 1980er Jahren zwischen zwei sowjetischen Spielern ist von der Politik nicht zu trennen; auch diesen Aspekt rekonstruiert Timman. Das in der westlichen Presse beliebte David gegen Goliath-Motiv – der junge heißblütige Vertreter der Perestroika (Kasparov) gegen den blutleeren Liebling des Apparates (Karpov) – kann so simpel nicht stehen bleiben, wie Timman aufzeigt. Auch Kasparov genoss auf seinem Weg in die absolute Weltspitze die umfangreiche Förderung des sowjetischen Schachbundes, auch er hatte seinerzeit im Politbüro des ZK der KPdSU einen mächtigen Gönner. Beide Spieler, so unterschiedlich sie im Temperament wie im Schachstil definitiv sind, ziehen alle Register, wenn es darum geht, die Umstände der Auseinandersetzung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Während des Treffens in Moskau 1984 nimmt Kasparov die Dienste eines Parapychologen und KGB-Offiziers in Anspruch, um beim Stand von 0:5 nicht zu kollabieren. Während des Matches in London/Leningrad 1986 wirft er einen Sekundanten aus seinem Team, den er (ohne Beweise) bezichtigt, interne Eröffnungsanalysen dem gegnerischen Lager zugänglich gemacht zu haben. Als Kasparov beim Match in New York/Lyon 1990, als die Sowjetunion noch existiert, mit einer improvisierten russischen Flagge am Brett sitzt, kommentiert Karpow, neben dem Hammer und Sichel auf rotem Grund wehen, süffisant, als Russe habe er auf dieses nationale Symbol aus der Zarenzeit eher ein Anrecht als der jüdische Armenier Kasparov.

      Auch weiß Timman über Skandalöses, Abseitiges und unfreiwillig Komisches während der „längsten Partie“ zu berichten. So musste das erste Duell 1984 in Moskau aus gesellschaftlichen Gründen unterbrochen werden, weil der Leichnam eines hohen Politikers am repräsentativen Spielort, der Säulenhalle des Gewerkschaftshauses, aufgebahrt werden sollte. Nach fünf Monaten brach der FIDE-Präsident Florencio Campomanos das Match schließlich ab, offiziell aus Sorge um die Gesundheit der Spieler. Ob er damit eher Karpov einen Dienst erwies, der körperlich völlig erschöpft wirkte, oder doch Kasparov, der bei der Wiederholung ein halbes Jahr später beim Stand von 0:0 beginnen konnte? Der Rückkampf 1986 war eine persönliche Konzession Campomanos' an Karpovs Wunsch im Falle des (eingetretenen) Titelverlustes. Besonders böse kam es ein Jahr später für Andrei Sokolov, der den Kandidatenzyklus 1987 gewonnen hatte und sich damit als legitimer Herausforderer Garri Kasparovs betrachten durfte. Auf Geheiß Campomanos' („Karpomanos“ in Boris Spasskis Worten) musste er jedoch ein „Superfinale“ gegen Anatoli Karpov spielen, das dieser gewann und ihm die vierte Runde gegen Kasparov einbrachte. 1990 schließlich durchlief Karpov den kompletten Kandidatenzyklus und besiegte im Finale – den Autor des rezensierten Buches, Jan Timman. K versus K zum Fünften.

      Garri Kasparov behielt von 1985 bis 1990 die Oberhand als Champion, wenn auch nur knapp. Anfang der 1990er Jahre spalteten er und Nigel Short mit der Gründung der PCA die Schachwelt und privatisierten den „klassischen“ Weltmeistertitel, Anatoli Karpov durfte sich noch einige Jahre „FIDE-Weltmeister“ nennen. Schachlich sind die beiden K und K längst im Ruhestand, ab und an treten sie noch zu Werbezwecken ans Brett. Anatoli Karpov ist ein Unterstützer Wladimir Putins geworden und sitzt als Abgeordneter in der Duma, Garri Kasparov ist erklärter Putin-Gegner geblieben und lebt seit dem Mord an seinem politischen Weggefährten Boris Nemzow in New York im Exil. Doch so spinnefeind, wie es die Medien in ihrem Hang zu Drama und Vereinfachung gerne hätten, sind sich die beiden Intrigantenvirtuosen nicht. So hat Karpov Kasparov 2007 im Gefängnis besucht, als er nach Protesten gegen Präsident Putin inhaftiert wurde. Und als Karpov 2010 für das Amt des FIDE-Präsidenten kandidierte, wurde er von Kasparov vehement unterstützt. Was die beiden Weltmeister an schachgeschichtlichem Erbe im Zuge ihres jahrelangen Hin und Her den Fans hinterlassen haben, können diese in Timmans vorzüglicher Darstellung 50 kommentierter Partien und 17 illustrierender Fragmente auf 365 Seiten nachlesen und -spielen. Sie werden es genießen, wie die Aufführung von fünf Sinfonien aus einer besonders fruchtbaren Schaffensperiode gleich zweier Komponisten.

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      Jan Timman: The longest game. The five Kasparov-Karpov matches for the World Chess Championship, Alkmaar 2019, New in Chess
    • Matthew Sadler und Natasha Regan über AlphaZero

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      Im Schach ist der Kampf zwischen dem menschlichen Gehirn und der Software längst zugunsten letzterer entschieden. 1997 verlor erstmals ein amtierender Weltmeister unter Matchbedingungen gegen einen Computer. Heute werden die Programme, die auf handelsüblichen Laptops laufen, von den Profis als Werkzeug zur Eröffnungsvorbereitung und zur Partieanalyse benutzt. Die Koexistenz menschlicher und künstlicher Intelligenz bekommt durch das Programm AlphaZero einen neuen Schub.

      Das Phänomen AlphaZero fasziniert die Welt des Schachs, seit es 2017 das bis dato stärkste Programm Stockfish in einem Wettkampf schlug. Mehrere Unterschiede zur Struktur seines Widerparts fallen auf: So wurde AlphaZero nicht mit Trainingsdaten aus Millionen bereits gespielter Partien gefüttert. Ebenso wenig hatte AlphaZero Zugriff auf Eröffnungs- und Endspieldatenbanken, einzig die Regeln des Spiels wurden ihm „erklärt“, bevor er tabula rasa mit dem Schach begann. Binnen neun Stunden Trainings mit etwa 1.000 Partien pro Sekunde (!) im Spiel gegen sich selbst hatte AlphaZero eine Stärke erreicht, die keine bisher generierte Engine vorzuweisen hatte. Hier scheint der abstrakte Begriff des Maschinellen Lernens angemessen.

      Matthew Sadler, britischer Schachgroßmeister und Informatiker, und Natasha Regan, britische Schachmeisterin und Mathematikerin, wurden von DeepMind, der Firma hinter AlphaZero, eingeladen, über 2.000 Partien zwischen ihrem Geschöpf und Stockfish zu analysieren. Ihr Fazit präsentieren sie im Buch „Game Changer“, das neben dem Schachspezifischen die Perspektiven der Künstlichen Intelligenz im Allgemeinen skizziert. Im Vorwort schreibt Garri Kasparow: „AlphaZeros Stärke ist beeindruckend, aber seine Methode ist viel wichtiger. AlphaZero unterzieht nicht einfach menschliches Wissen einer Milliarden Operationen umfassenden Kalkulation – es generiert zuerst sein eigenes Wissen. Basierend auf seinen Ergebnissen und meinen Beobachtungen, ist das geschaffene Wissen einzigartig und überlegen. Wir bekommen nicht lediglich bessere Resultate im Vergleich zum Rechner. Anstatt einer Postkarte aus der Ferne ist AlphaZero ein Teleskop, das das Potenzial hat, uns auf uns selbst blicken zu lassen.“

      Gängige Eliteprogramme wie Stockfish, Houdini oder Komodo überzeugen durch ihre schiere Rechengeschwindigkeit, gepaart mit leistungsstarken Prozessoren. Die Brute-Force-Methode, die sie jede theoretisch denkbare Zugfolge durchrechnen lässt (je länger desto tiefer), führt zur Empfehlung des einen besten Zuges in gegebener Position. Der Algorithmus hinter AlphaZero geht hingegen kreativer und ressourcenschonender vor, er „denkt“ am Schachbrett wie ein Mensch, indem er offensichtlich absurde Varianten gar nicht erst in die Kalkulation einbezieht. Außerdem spielt er weniger materialistisch als seine Silizium-Kollegen und opfert Bauern und Figuren für die Initiative. Der Algorithmus wird als geistiges Eigentum von DeepMind wie ein Schatz gehütet, für den Gebrauch unter Turnier- und Vereinsspielern ist er nicht vorgesehen.

      Die wissenschaftliche Debatte um Künstliche Intelligenz erhält durch das Auftauchen AlphaZeros neuen Schwung. Menschen haben akzeptiert, dass Computer ihnen in der seriellen Kalkulation von Daten heillos überlegen sind; dafür sind die humane Sensorik und das Hirn unschlagbar im Erkennen von Mustern und Zusammenhängen in einem gewaltigen Datenhaufen, von Empathie und Engagement zu schweigen. Die Programmierer von AlphaZero denken über einen Einsatz des Algorithmus beim Interpretieren einer MRT oder beim Lenken von Verkehrsströmen nach. Sie folgen damit der Logik ihres Mutterkonzerns Google, der sich einer „AI first“-Strategie verschrieben hat. Längst arbeitet der Weltmarktführer der digitalen Suchmaschinen mit Ärzten, Statistikern, Versicherungen und Pharma- wie Biotechfirmen zusammen, um den Inhalt seiner Serverfarmen durch Verknüpfungen zu monetarisieren.

      Was heute Game Changer heißt, wurde früher Paradigmenwechsel genannt; in keiner Präsentation der softwaregetriebenen Prediger des Silicon Valley fehlen die Vokabeln des Disruptiven, des nie Dagewesenen und der Weltenrettung. Diese Emphase trifft auf AlphaZero insofern zu, als dass sich die Blackbox der Engine in ihrem Vorgehen am menschlichen Hirn und dessen Fähigkeit zum dreidimensionalen Verschalten orientiert. Nicht länger ist der Computer der Metaphernspender für das Hirn, vielmehr wächst mit zunehmender Forschung zur Künstlichen Intelligenz selbst bei Google der Respekt vor dem neuronalen Netz, das mehr kann als das endlose Abarbeiten von 1/0-Differenzen, vielmehr über wertvolle Kontextualisierung, Mustererkennung, Ethik und Effizienz verfügt.

      Sadler und Regan zeigen sich begeistert vom aktiven Stil AlphaZeros, der Material für Tempi, Raumgewinn und offene Linien wie Diagonalen zu geben bereit ist. Er nimmt gern den gegnerischen König ins Visier; er versichert sich der Stabilität im Zentrum, bevor er den eigenen Königsflügel öffnet; er operiert bevorzugt mit ungleichfarbigen Läufern und heterogenen Rochaden; er findet geeignete Vorposten für eigene Springer; er zielt darauf, gegnerische Figuren passiv zu stellen und aktive Figuren des Gegners zu tauschen; in der Verteidigung stiftet er Verwirrung durch den Einsatz taktischer Motive. Vergleichbare Ansätze finden die beiden Autoren im Schach so unterschiedlicher Größen wie Garri Kasparow, Anatoli Karpow, Alexander Aljechin, Alexej Shirow, Judith Polgar, Bent Larsen, Viswanathan Anand und Magnus Carlsen, deren Partien sie mit denen ihres digitalen Kontrahenten kontrastieren.

      Demis Hassabis, CEO von DeepMind sowie Schachamateur, sieht AlphaZero nicht auf das königliche Spiel beschränkt. Schach eigne sich wegen der standardisierten Situation der Regelbasiertheit und der Transparenz aller Informationen bestens zum Training eines selbstlernenden Algorithmus, der Gedächtnisleistungen mit Vorstellungskraft und Zielstrebigkeit kombiniert. Wie sich dessen künftige Versionen auf kritischen Feldern wie der Medizin, der Ernährung, der Ökologie oder der Politik bewähren, wird die Zukunft weisen. Angesichts von 200 Mrd. USD, die jährlich in die Forschung zur Künstlichen Intelligenz investiert werden, werden spielverändernde Verschiebungen kaum ausbleiben. Das Schach bekommt die ehrenvolle Rolle einer Blaupause komplexer sozialer Veränderungen – im Sinne Garri Kasparows, für den das Leben das Schach imitiert.

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      Matthew Sadler and Natasha Regan: Game Changer. AlphaZero's groundbreaking chess strategies and the promise of AI, Alkmaar 2019, New in Chess
    • Andrew Soltis über Mikhail Tal, Tigran Petrosian, Boris Spasski und Viktor Korchnoi

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      Mit Beginn des Kalten Krieges wurde die Sowjetunion das stärkste Land im Schach. In den 1950er Jahren trat eine neue Generation von Schachspielern auf den Plan, die gleich drei nachmalige Weltmeister stellen sollte. Der US-Autor Andrew Soltis erzählt in seinem neuen Buch die Geschichte der Großmeister Mikhail Tal, Tigran Petrosian, Boris Spasski und Viktor Korchnoi als parallele Montage aus Kooperation und Konkurrenz.

      Die vier Genannten erlebten den II. Weltkrieg als Kinder respektive als Jugendliche, ab Mitte der 1950er Jahre gehörten sie zur Spitze des sowjetischen sowie des Weltschachs. Tigran Petrosian (1929 – 1984), Viktor Korchnoi (1931 – 2016) und Boris Spasski (geboren 1937) stammten aus armen Familien und überlebten den Krieg unter Hunger und Krankheiten, lediglich Mikhail Tal (1936 – 1992) wuchs in einer kultivierten Intellektuellenfamilie heran und verbrachte die Kriegsjahre in der Evakuierung im Ural. Die Lebenswege dieser unterschiedlichen Männer sind je für sich oft erzählt worden – Andrew Soltis betrachtet sie stellvertretend für ihre Generation und für das sowjetische Schach bis in die 1970er Jahre. Dazu rekurriert er auf die Autobiografien der Spieler, die einschlägigen schachhistorischen Darstellungen und auf englisch- wie russischsprachige Schachzeitschriften.

      Seine Synopse hat ihre Berechtigung, zeigt sich doch, dass ihre schachliche Entwicklung nicht so geradlinig verlief, wie es aus der Rückschau scheinen mag. Die Vier saßen sich über 20 Jahre lang immer wieder als Gegner am Brett gegenüber, bei der nationalen Meisterschaft der UdSSR, bei Interzonenturnieren, bei Kandidatenwettkämpfen und schließlich bei WM-Matches. Gleichzeitig waren sie bei zahlreichen Olympiaden Teil des sowjetischen Teams, trainierten gemeinsam und pflegten überdies aufrichtige Freundschaften. Soltis spricht hier von „Frenemies“, was sich freihändig als „Freinde“ übersetzen lässt.

      Der Autor geht soweit, die Angehörigen seines Quartetts jeweils einem der vier Temperamente zuzuordnen. Der lebenslustige Mikhail Tal mit seinem Habitus eines Bohemian und einer überquellenden Attraktivität ist ihm der Sanguiniker; Viktor Korchnoi mit seiner verbalen Aggressivität, seinen Wutausbrüchen und dem Hang zu Verschwörungstheorien ist der Choleriker; Tigran Petrosian mit seinem Hörschaden aus früher Kindheit, seinen Minderwertigkeitskomplexen und seinem verschlagenen Auftreten gerät zum Phlegmatiker; Boris Spasski mit seinem blendenden Äußeren, seiner notorischen Faulheit und seiner relativen Unangepasstheit gibt den Melancholiker.

      Vor allem aber sind diese Vier neben anderen Spielern ihrer Zeit Günstlige eines entschiedenen Schachförderprogramms der sowjetischen Funktionäre. Nach Josef Stalins Tod 1953 erhalten Spitzenspieler des Riesenreiches ein monatliches Stipendium, das es ihnen erlaubt, als Quasiprofis sich vollends dem Schach zu widmen; offiziell arbeiten sie als Journalist, Historiker oder Lehrer. Man erwartet von ihnen Linientreue zur KPdSU und drängt sie zum Eintritt in die Partei, was Petrosian und Korchnoi aus taktischen Erwägungen auch tun. Sie kommen in den raren Genuss von Auslandsreisen zu internationalen Turnieren und dürfen das Preisgeld in harter Währung behalten; unschätzbare Privilegien in der Sowjetunion, die auch Viktor Korchnoi 1965 während eines Turniers in Hamburg davon abhalten, sich in den Westen abzusetzen.

      Natürlich zeichnet Soltis auch die schachlichen Kurven der Genannten nach. Tals Laufbahn ist die eines Kometen, beim jeweils ersten Anlauf gelingt ihm stets der große Wurf, allerdings ist er seinen 1960 flamboyant eroberten WM-Titel nach einem Jahr schon wieder los. In der Folge verhindern schwere Gesundheitsprobleme und ein selbstzerstörerischer Lebenswandel sein Comeback auf den Thron. Petrosian nimmt langsam und weitgehend unter dem Radar eine Stufe nach der anderen, dabei eine erstaunliche Bereitschaft zur Intrige auch gegen nahe Freunde wie Korchnoi offenbarend. Er profitiert von den Kontakten seiner ehrgeizigen Frau Rona zu den hohen Rängen der Partei, die ihn in den 1960er Jahren als Weltmeister zur Autorität im sowjetischen Schach machen, seinem grauen Stil am Brett zum Trotz.

      Boris Spasski startet in der Jugend mit ähnlich himmlischem Talent wie Tal, kommt aber mit Rückschlägen nicht immer gut zurecht, zumal er sich aufmüpfig gegenüber den Kadern verhält. Seine Niederlage im WM-Kampf 1972 gegen Bobby Fischer verdeckt, dass er in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die klare Nummer 1 der Schachwelt war. Viktor Korchnoi schließlich sieht sich als Unvollendeten; WM-Kandidat schon 1962, hart arbeitend und mehrfacher Landesmeister der UdSSR, kommt er erst 1978, nach seiner Flucht in die Niederlande, zum Titelmatch gegen Anatoli Karpow. Überall wittert er Missgunst, immer sind andere schuld an seinem Pech.

      Die Geschichte der „Freinde“ ist mehr als Klatsch und Tratsch, sie erzählt aus dem Innenleben des sowjetischen Schachs im Zeitalter seiner Dominanz bei wachsender Angst vor dem Klassenfeind Bobby Fischer. Der Autor referiert auf die entscheidenden Trainer und Sekundanten der Vier, auf ihr Glück, in den Metropolen Leningrad, Riga und Tiflis großzuwerden, und spart nicht den Einfluss ihrer Ehefrauen und Kinder auf ihre Gemütsverfassung und ihre schachliche Leistung aus. Schach war, so der Eindruck, im tristen Kollektiv der UdSSR ein Zugang zu Weltoffenheit, geistiger Freiheit und Wohlstand und gar ein wenig Glamour. In einer Zeit, als es im Westen lediglich Amateure am Brett gab, sicherte die staatliche Förderung der Sowjetunion die Oberhand im Schach; ihre Protagonisten wurden verehrt wie Schauspieler, Kosmonauten und Sporthelden.

      Soltis zitiert und kommentiert zum Teil bekannte, zum Teil unbekannte Partien aus den jeweiligen Lebensstadien seiner Charaktere und illustriert die Erzählung mit seltenen Fotos aus sowjetischen und US-Schachzeitschriften. Ein sauber geführtes Register und eine schachliche Chronologie von 1929 bis 2016 runden den Band ab. Ein kunstvoll arrangiertes Gruppenbild der Hoffnungen, Erfolge und Niederlagen entsteht vor der Leserin Auge. Vier Großmeister, deren heute so klar erscheinende Stile auch Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem Spiel der Rivalen sind. Wo das Schachbrett zur hermetischen Welt im Imperium wird, zwischen dem Tauwetter unter Nikita Chruschtschov und der Sklerose unter Leonid Breschnev. Das Panorama einer begnadeten Generation, so schillernd, weil es nicht die eine alle anderen überstrahlende Figur gibt.

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      Andrew Soltis: Tal, Petrosian, Spassky and Korchnoi. A Chess Multibiography with 207 Games, Jefferson/North Carolina 2019, McFarland