Milan Vidmar - Goldene Schachzeiten
von [i]Fernando Offermann[/i]
Milan
Vidmar: Goldene Schachzeiten. Erinnerungen. Reprint der zweiten
Auflage, 259 S., broschiert. Edition Mädler im Joachim Beyer Verlag,
Hollfeld 2006.
Schachbücher in deutscher Sprache erscheinen viel zu selten, die
Blütezeit ist eindeutig vorbei. Bücher über Eröffnungen stellen
teilweise eine Ausnahme dar, doch dominieren Publikationen in englischer
Sprache.
Manfred Mädler tut etwas dagegen. Der Schach-Händler und Verleger
kann wahrscheinlich nicht anders. Mit der Edition Mädler im Joachim
Beyer Verlag hat er es sich zur Aufgabe gemacht, wichtige Schachbücher
in kleinen Auflagen noch einmal herauszubringen. Milan Vidmars "Goldene
Schachzeiten" ist der erste Band in dieser Reihe. Weitere Titel in
unregelmäßigen Abständen sind geplant.
Mit der Neuauflage von Milan Vidmars "Goldene Schachzeiten", zuerst
veröffentlicht im Walter de Gruyter Verlag 1960, wird dem Schach wieder
etwas zurückgegeben, was dabei war, in Vergessenheit zu geraten. Über
das goldene Zeitalter der Vorkriegszeit im Schach weiß ja heutzutage
kaum jemand mehr etwas zu berichten. Es ist die Ära aus Stefan Zweigs
"Schachnovelle", als es nur wenige Meister gab, und diese mit
Ozeandampfern zu Turnieren nach New York reisten.
Milan Vidmar, Österreicher in Ungarn, Elektroingenieur und
Schachgroßmeister, in der Jugend im Zweispalt zwischen Schachlaufbahn
und bürgerlicher Karriere, ist ein ehrgeiziger, weltläufiger und
reflektierender Autor. Manche sollen ihm eine gewisse Hochnäsigkeit
nachgesagt haben, doch das spiegelt sich in seinen Erinnerungen nicht
wieder. Das ist die besondere Qualität dieses Titels: Man braucht den
Autor nicht zu mögen, um Gefallen an den Schilderungen wahrlich goldener
Zeiten zu finden. Er tritt in seiner Persönlichkeit zurück und lässt
vor allem den Inhalt sprechen.
Die Thesen, die Vidmar den Erinnerungen und Anekdoten über Aljechin,
Tarrasch und Kollegen beistellt, sind immer noch sehr aktuell. Thesen
zum möglichen Remistod im Schach, ferner die Frage, ob
Schachprofessionalität überhaupt erstrebenswert ist und Überlegungen zur
inflationären Abwertung des Großmeistertitels haben die Meister damals
beschäftigt und sind auch heute noch relevant. Für heutige Leser
spiegelt sich die gegenwärtige Situation des Schachs in diesen Punkten
erstaunlich deutlich in der Vergangenheit.
Wie Michail Botwinnik war auch Vidmar als Elektro-Ingenieur
erfolgreich, doch war Vidmar auch als Techniker ein Großmeister seines
Fachs. Flüssig und getragen, elegant und erfrischend selbstbewusst zeigt
sein Stil eine gesetzte Haltung der Welt gegenüber. Auch Partien gibt
der Autor zum Besten, sich kokett rechtfertigend, aber wenn sich auch
Tarrasch und Aljechin zu seinen Partien durchaus anerkennend geäußert
haben, wird er sie auch mit Stolz präsentieren dürfen.
Trotz der Aktualität seiner Kernthesen stehen vor allem anderen die
Erinnerungen im Vordergrund. "Wo sind meine Gefährten jener herrlichen
Zeit der Schachgeschichte: Capablanca, Aljechin, Réti, Nimzowitsch,
Bogojubow, Spielmann, Tartakower, Lasker, Tarrasch, Tschigorin,
Schlechter, Pillsbury, Janowski, Maroczy? (…) Ich bin also allem
Anschein nach der letzte der heutigen Schachwelt erreichbare
Berichterstatter aus der Schachepoche, die schon weit in der
Vergangenheit begraben liegt. Hat es überhaupt einen Sinn, dass ich
berichte, wird mir die heutige Schachwelt zuhören wollen?
Nun, ich glaube der Schachwelt nicht nur einen Bericht über den
Zeitabschnitt, in dem ich im hohen Schach mitgewirkt habe, schuldig zu
sein, ich muss sie auch warnen. Meine alten Augen sehen immer noch viel,
sie wissen nicht nur, wie es war, sondern auch, wie es heute ist; meine
gesammelten Erfahrungen lehren mich, dass das hohe Schach sehr lebendig
war und noch ist, dass es als ein eigenartiges Lebewesen gesund und
krank, blühend und verfallend sein kann, dass es seine Poesie, seine
Philosophie hat, dass es Verführungen entwickelt, die ein menschliches
Leben vergeuden wollen, andererseits aber unvergleichliche Genüsse
bietet, wenn es rein genossen wird."
In der ersten Episode über das Turnier in Nottingham 1936 heißt es:
"Ich bin in diesen meinen Erinnerungsbildern ein wenig vom Weg
abgewichen, und Aljechin steht immer noch in Nottingham, ein
abgegriffenes Buch in der Hand, vor mir, vor uns, die wir etwas
Interessantes erfahren sollten. Dass es eine Partie sein wird, war uns
klar. Wir erwarteten eine Eröffnung, wie sie damals immer noch üblich
war und niemand von uns dachte eigentlich an solche Eröffnungssprünge,
wie sie Nimzowitsch erfand und vorführte. Wir sollten sehr bald
enttäuscht bzw. überrascht werden.
"Nun sagen Sie aber doch endlich, Aljechin, wer das gespielt hat?"
schrien wir, als er beim 29. Zuge angelangt war. Aljechin hatte ein
feines Lächeln aufgesetzt. Auch eine Kunstpause hatte er eingeschoben,
aber schließlich sagte er mit seltsamer Betonung: "Das, meine Herren,
was Sie eben vorgeführt bekamen, ist der Anfang der Partie zwischen J.
Mason und I. H. Zukertort aus dem berühmten großen Turnier, das im Jahr
1883 in London gespielt wurde, und Zuckertort einen unerhörten Erfolg,
natürlich mit dem ersten Preis gekrönt, einbrachte."
Partie nachspielen:archiv.berlinerschachverband.d…games/mason-zukertort.htm
"Das, was ich in der Hand habe, dieses abgegriffene Buch", fuhr er
fort, "ist das Turnierbuch aus dem Jahr 1883. Es sind noch einige
Exemplare zu haben. Es ist eine Fundgrube großartiger Partien, es
enthält allerdings auch einige recht minderwertige Spiele. Sie sehen,
meine Herren, dass wir im Unrecht sind, wenn wir heute, im Jahr 1936,
von oben herab auf die Zeit zurückschauen, die ein halbes Jahrhundert
zurück in der Vergangenheit liegt."
Nach dem Studium verschlägt es Vidmar zunächst von Wien aus in die
Provinz, dann nach Budapest. Der neue Chef ist selbst Schachliebhaber,
motiviert Vidmar aber nachdrücklich, seinen Talenten in der
Transistoren-Technik zu folgen, und Vidmar hat Erfolg. Erstaunlich
bildhaft spiegelt sich die Ingenieurs-Intelligenz des Fabrikbesitzers in
dessen Vorliebe für die Komposition von Schachproblemen, deren Lösung
viele Züge erfordern, in der Regel sind es Mattaufgaben mit ca. 250
Zügen.
Vidmar hatte die Probleme von seinem Arbeitgeber manchmal mit ins
Wochenende bekommen und löste und kommentierte sie. Die ausführliche
Lösung und Vidmars genaue Beschreibung der Mechanik dieses Rätsels sind
auf dieser gesonderten Seite wiedergegeben ( Leseprobe).
Wie schade, dass nicht mehr Meister ihre Erinnerungen festgehalten
haben, aber nicht von allen hätten wir ein solches Buch erhalten. Der
Autor hat dem Werk die Absicht vorangestellt, den nachwachsenden
Generationen etwas weitergeben zu wollen. Es spricht auch
Verantwortungsbewusstsein daraus, zum Glück kommt noch Humor dazu. Ein
gutes Buch.
(Zur Verfügung gestellt vom Schachhaus Mädler)
Quelle : Berliner Schachverband
von [i]Fernando Offermann[/i]
Milan
Vidmar: Goldene Schachzeiten. Erinnerungen. Reprint der zweiten
Auflage, 259 S., broschiert. Edition Mädler im Joachim Beyer Verlag,
Hollfeld 2006.
Schachbücher in deutscher Sprache erscheinen viel zu selten, die
Blütezeit ist eindeutig vorbei. Bücher über Eröffnungen stellen
teilweise eine Ausnahme dar, doch dominieren Publikationen in englischer
Sprache.
Manfred Mädler tut etwas dagegen. Der Schach-Händler und Verleger
kann wahrscheinlich nicht anders. Mit der Edition Mädler im Joachim
Beyer Verlag hat er es sich zur Aufgabe gemacht, wichtige Schachbücher
in kleinen Auflagen noch einmal herauszubringen. Milan Vidmars "Goldene
Schachzeiten" ist der erste Band in dieser Reihe. Weitere Titel in
unregelmäßigen Abständen sind geplant.
Mit der Neuauflage von Milan Vidmars "Goldene Schachzeiten", zuerst
veröffentlicht im Walter de Gruyter Verlag 1960, wird dem Schach wieder
etwas zurückgegeben, was dabei war, in Vergessenheit zu geraten. Über
das goldene Zeitalter der Vorkriegszeit im Schach weiß ja heutzutage
kaum jemand mehr etwas zu berichten. Es ist die Ära aus Stefan Zweigs
"Schachnovelle", als es nur wenige Meister gab, und diese mit
Ozeandampfern zu Turnieren nach New York reisten.
Milan Vidmar, Österreicher in Ungarn, Elektroingenieur und
Schachgroßmeister, in der Jugend im Zweispalt zwischen Schachlaufbahn
und bürgerlicher Karriere, ist ein ehrgeiziger, weltläufiger und
reflektierender Autor. Manche sollen ihm eine gewisse Hochnäsigkeit
nachgesagt haben, doch das spiegelt sich in seinen Erinnerungen nicht
wieder. Das ist die besondere Qualität dieses Titels: Man braucht den
Autor nicht zu mögen, um Gefallen an den Schilderungen wahrlich goldener
Zeiten zu finden. Er tritt in seiner Persönlichkeit zurück und lässt
vor allem den Inhalt sprechen.
Die Thesen, die Vidmar den Erinnerungen und Anekdoten über Aljechin,
Tarrasch und Kollegen beistellt, sind immer noch sehr aktuell. Thesen
zum möglichen Remistod im Schach, ferner die Frage, ob
Schachprofessionalität überhaupt erstrebenswert ist und Überlegungen zur
inflationären Abwertung des Großmeistertitels haben die Meister damals
beschäftigt und sind auch heute noch relevant. Für heutige Leser
spiegelt sich die gegenwärtige Situation des Schachs in diesen Punkten
erstaunlich deutlich in der Vergangenheit.
Wie Michail Botwinnik war auch Vidmar als Elektro-Ingenieur
erfolgreich, doch war Vidmar auch als Techniker ein Großmeister seines
Fachs. Flüssig und getragen, elegant und erfrischend selbstbewusst zeigt
sein Stil eine gesetzte Haltung der Welt gegenüber. Auch Partien gibt
der Autor zum Besten, sich kokett rechtfertigend, aber wenn sich auch
Tarrasch und Aljechin zu seinen Partien durchaus anerkennend geäußert
haben, wird er sie auch mit Stolz präsentieren dürfen.
Trotz der Aktualität seiner Kernthesen stehen vor allem anderen die
Erinnerungen im Vordergrund. "Wo sind meine Gefährten jener herrlichen
Zeit der Schachgeschichte: Capablanca, Aljechin, Réti, Nimzowitsch,
Bogojubow, Spielmann, Tartakower, Lasker, Tarrasch, Tschigorin,
Schlechter, Pillsbury, Janowski, Maroczy? (…) Ich bin also allem
Anschein nach der letzte der heutigen Schachwelt erreichbare
Berichterstatter aus der Schachepoche, die schon weit in der
Vergangenheit begraben liegt. Hat es überhaupt einen Sinn, dass ich
berichte, wird mir die heutige Schachwelt zuhören wollen?
Nun, ich glaube der Schachwelt nicht nur einen Bericht über den
Zeitabschnitt, in dem ich im hohen Schach mitgewirkt habe, schuldig zu
sein, ich muss sie auch warnen. Meine alten Augen sehen immer noch viel,
sie wissen nicht nur, wie es war, sondern auch, wie es heute ist; meine
gesammelten Erfahrungen lehren mich, dass das hohe Schach sehr lebendig
war und noch ist, dass es als ein eigenartiges Lebewesen gesund und
krank, blühend und verfallend sein kann, dass es seine Poesie, seine
Philosophie hat, dass es Verführungen entwickelt, die ein menschliches
Leben vergeuden wollen, andererseits aber unvergleichliche Genüsse
bietet, wenn es rein genossen wird."
In der ersten Episode über das Turnier in Nottingham 1936 heißt es:
"Ich bin in diesen meinen Erinnerungsbildern ein wenig vom Weg
abgewichen, und Aljechin steht immer noch in Nottingham, ein
abgegriffenes Buch in der Hand, vor mir, vor uns, die wir etwas
Interessantes erfahren sollten. Dass es eine Partie sein wird, war uns
klar. Wir erwarteten eine Eröffnung, wie sie damals immer noch üblich
war und niemand von uns dachte eigentlich an solche Eröffnungssprünge,
wie sie Nimzowitsch erfand und vorführte. Wir sollten sehr bald
enttäuscht bzw. überrascht werden.
"Nun sagen Sie aber doch endlich, Aljechin, wer das gespielt hat?"
schrien wir, als er beim 29. Zuge angelangt war. Aljechin hatte ein
feines Lächeln aufgesetzt. Auch eine Kunstpause hatte er eingeschoben,
aber schließlich sagte er mit seltsamer Betonung: "Das, meine Herren,
was Sie eben vorgeführt bekamen, ist der Anfang der Partie zwischen J.
Mason und I. H. Zukertort aus dem berühmten großen Turnier, das im Jahr
1883 in London gespielt wurde, und Zuckertort einen unerhörten Erfolg,
natürlich mit dem ersten Preis gekrönt, einbrachte."
Partie nachspielen:archiv.berlinerschachverband.d…games/mason-zukertort.htm
"Das, was ich in der Hand habe, dieses abgegriffene Buch", fuhr er
fort, "ist das Turnierbuch aus dem Jahr 1883. Es sind noch einige
Exemplare zu haben. Es ist eine Fundgrube großartiger Partien, es
enthält allerdings auch einige recht minderwertige Spiele. Sie sehen,
meine Herren, dass wir im Unrecht sind, wenn wir heute, im Jahr 1936,
von oben herab auf die Zeit zurückschauen, die ein halbes Jahrhundert
zurück in der Vergangenheit liegt."
Nach dem Studium verschlägt es Vidmar zunächst von Wien aus in die
Provinz, dann nach Budapest. Der neue Chef ist selbst Schachliebhaber,
motiviert Vidmar aber nachdrücklich, seinen Talenten in der
Transistoren-Technik zu folgen, und Vidmar hat Erfolg. Erstaunlich
bildhaft spiegelt sich die Ingenieurs-Intelligenz des Fabrikbesitzers in
dessen Vorliebe für die Komposition von Schachproblemen, deren Lösung
viele Züge erfordern, in der Regel sind es Mattaufgaben mit ca. 250
Zügen.
Vidmar hatte die Probleme von seinem Arbeitgeber manchmal mit ins
Wochenende bekommen und löste und kommentierte sie. Die ausführliche
Lösung und Vidmars genaue Beschreibung der Mechanik dieses Rätsels sind
auf dieser gesonderten Seite wiedergegeben ( Leseprobe).
Wie schade, dass nicht mehr Meister ihre Erinnerungen festgehalten
haben, aber nicht von allen hätten wir ein solches Buch erhalten. Der
Autor hat dem Werk die Absicht vorangestellt, den nachwachsenden
Generationen etwas weitergeben zu wollen. Es spricht auch
Verantwortungsbewusstsein daraus, zum Glück kommt noch Humor dazu. Ein
gutes Buch.
(Zur Verfügung gestellt vom Schachhaus Mädler)
Quelle : Berliner Schachverband
Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Anderssen ()