Wilhelm war der Erste

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    • Wilhelm war der Erste

      Am 14. Mai 1836 wurde Wilhelm Steinitz in Prag geboren, von 1886 bis 1894 erster offizieller Weltmeister im Schach. Steinitz, auf den Namen Wolf getauft, stammte aus der bescheidenen Familie eines Schneiders und wuchs im jüdischen Ghetto Prags auf. Er verließ die Schule im Alter von fünfzehn Jahren, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, ging 1858 nach Wien und nannte sich fortan Wilhelm. Er besuchte Vorlesungen am Polytechnikum und wurde Dauergast in Cafés, wo seine rasch anwachsende Spielstärke diverse Mäzene anlockte. Zu Beginn seiner Karriere spielte Steinitz im romantischen Opferstil Paul Morphys. Er erkannte jedoch bald, dass dessen hoch geschätzte Glanzpartien weitgehend durch tatkräftige Mithilfe der Gegner zu Stande gekommen waren. Steinitz legte sein Augenmerk auf die solide Verteidigung und wurde der erste Theoretiker der Schachgeschichte, der eine Partie als Ganzes nach konzeptionellen und empirisch belegten Aspekten erfasste: Der umsichtige Spieler strebt aus der Eröffnung heraus nach positionellem Übergewicht, das im Mittelspiel zu anhaltender Initiative, schließlich zu materiellem Vorteil und in dessen Folge zum Sieg versprechenden Angriff führt bzw. in ein gewonnenes Endspiel. Mit dieser systematischen Sicht definierte Steinitz den Nullpunkt des modernen Schachs; seine Kriterien zur positiven Einschätzung einer Stellung – Entwicklungsvorsprung, Beherrschung des Zentrums, freies Figurenspiel, Bauernmajorität am Damenflügel, Sicherheit des eigenen Königs, Spiel auf gegnerische Felderschwächen, Besetzung offener Linien, Überlegenheit des Läuferpaares - wurden eine Generation später von Siegbert Tarrasch gelehrt und fanden noch in Robert James Fischer einen eifrigen Adepten. Der Autodidakt Steinitz, der die Opern Richard Wagners liebte, dominierte zwei Jahrzehnte lang die zwischen urbanem Kaffeehaus, proletarischem Jahrmarkt und bourgeoisem Herrenclub changierende Schachwelt. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich durch Simultanauftritte, Blindspiel und als Schachjournalist in Wien, ab 1862 dann in London. Er besiegte 1866 Adolph Anderssen und war 1883 beim Turnier in London erfolgreich. Wegen des anschwellenden Antisemitismus in Europa siedelte Steinitz in die USA über und wurde 1888 amerikanischer Staatsbürger. 1886 spielte er, bereits 50 Jahre alt, in New York, Saint Louis und New Orleans einen Wettkampf gegen Johannes Zukertort; nebenbei einigten sich die beiden Kontrahenten darauf, dass der Gewinner den Titel „Champion of the World“ führen möge. Steinitz verteidigte „seinen“ Titel gegen Mikhail Tschigorin, um ihn 1894 gegen Emanuel Lasker zu verlieren. In seinen letzten Jahren litt Steinitz an fortschreitender Geisteskrankheit; allen Ernstes forderte er Gott per Telefon zu einer Partie heraus. Auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert starb Wilhelm Steinitz in New York im Alter von 64 Jahren, vereinsamt und verarmt. Unvergessen bleibt sein Ausspruch: „Schach ist nichts für schwache Geister, denn es ergreift gänzlich Besitz von Dir.“

      Die zitierte vierte Matchpartie gegen Mikhail Tschigorin, Havanna 1892, ist insofern repräsentativ für Steinitz, weil sein langfristig angelegtes Manövrieren vor dem zwingenden Mattangriff bereits das wissenschaftliche Schach des 20. Jahrhunderts in sich birgt.

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