Tolja hat Geburtstag

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    • Tolja hat Geburtstag

      Seine Spielstärke ist außerordentlich hoch, sein Image unter Schachspielern aller Couleur ist allerdings nicht besonders schmeichelhaft. Wohl Meinende beschreiben seinen Stil als solide, pragmatisch oder harmonisch, weniger freundlich Gestimmte nennen sein Schach einfach langweilig. Anatoli „Tolja“ Karpow wurde 1951 in einem kleinen Ort im Ural, wo sein Vater als Ingenieur in der Metallindustrie arbeitete, geboren, seinen schachlichen Schliff erfuhr er im Pionierpalast von Tula. Der Junge galt als begnadet talentiert, aber trainingsfaul; dessen ungeachtet, konnte er sich bereits in seinem ersten WM-Kandidatenzyklus 1974 durchsetzen. Von 1975 bis 1985 der zwölfte Weltmeister im Schach (und in den 1990ern noch einige Jahre Träger des FIDE-Titels), demonstrierte Karpow am Brett die traumwandlerische Fähigkeit, einen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegenden Stellungsvorteil schleichend in einen gravierenden und schließlich in einen den Sieg bringenden zu verwandeln. In den Worten Mikhail Tals, seines zeitweiligen Sekundanten: „Viele Absichten Karpows werden seinen Gegnern erst dann verständlich, wenn es keine Rettung mehr gibt.“ Durch geduldiges Manövrieren und dank einer bereits in jungen Jahren perfekten Technik konnte er selbst Positionen gewinnen, die nach gängiger Lehrmeinung zum gähnenden Remis tendieren, wie etwa Endspiele mit ungleichfarbigen Läufern oder solche mit symmetrischer Bauernstruktur. Er wurde 1975 am grünen Tisch zum Weltmeister gekürt, weil Robert James Fischer sich weigerte, seinen Titel am Brett zu verteidigen. Seine Wettkämpfe gegen Viktor Kortschnoi 1978 in Baguio auf den Philippinen und 1981 in Meran in Tirol/Norditalien wurden als Auseinandersetzung zwischen dem blassen Liebling des KPdSU-Politbüros und dem furchtlosen Dissidenten inszeniert und bescherten dem Schach neben einigen bemerkenswerten Partien auch traurige Höhepunkte psychologischer Kriegsführung. 1985, im Ausgang der vereisten Ära Breschnjew verlor Karpow die Krone gegen den unaufhaltsam stürmenden Garri Kasparow. Die beiden so genannten K&K spielten gleich fünfmal um den höchsten Titel im Schach und schufen dabei 144 Partien, einsamer Rekord bis heute. Karpow vertrat die UdSSR bei insgesamt sechs Schacholympiaden und beendete über 90 Turniere als Sieger, so viele wie kein anderer Spieler überhaupt. Solitär sein Triumph in Linares 1994, als er die versammelte Weltelite ohne eine Niederlage um zweieinhalb Punkte distanzierte. Karpow hat sich mittlerweile vom aktiven Schach zurückgezogen, ist aber als Repräsentationsgast der Szene weiterhin verbunden; eine Schachakademie im nordbadischen Hockenheim trägt seinen Namen. 2010 kandidierte er gar (erfolglos) für das Amt des FIDE-Präsidenten, dabei wurde er von seinem ewigen Rivalen Kasparow nach Kräften unterstützt. Aus dem schmalen Jüngling ist mit den Jahren ein stattlicher Herr barocken Leibesumfangs geworden. Am 23. Mai wird Anatoli Karpow, der als Hobby Briefmarkensammeln (!) angibt, 61 Jahre alt.

      Die zitierte Partie gegen Wolfgang Unzicker, Schacholympiade Nizza 1974, endet mit einer skurrilen Stellung: Nach 44 Zügen sind gerade vier Steine vom Brett verschwunden, und Schwarz ist, ohne einen einzigen schlimmen Fehler gemacht zu haben, nach vergeblicher Qual vollständig gelähmt und hilflos gegen das Eindringen der gegnerischen Figuren über die geschwächten weißen Felder des Königsflügels.

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